Achtung, Wutwicht!

Unter der bekannten Hülle Ihres geliebten Kindes befindet sich mitunter ein Avatar, der vor dem Süßigkeitenregal im Supermarkt schreit, sich vor dem Kindergarten nicht anzieht und trampelt. Dieser Avatar macht sich vor Ausflügen in den Wald nicht fertig, sondern beschimpft alle, wirft Bücherstapel um, tritt mit den Füßen und beschimpft die liebe Mama unflätig. Kommt Ihnen bekannt vor, oder? Mir schon, ich hatte davon zwei Herzchen.

Das Wutwicht-Repertoire

Der sogenannte Wutwicht tauchte zum ersten Mal auf, als wir eine Ferienwohnung an der Ostsee bezogen. Alles da, erste Vorräte fürs Wochenende hatten wir mitgebracht, doch dann – verdammt: kein Klopapier in der Hütte. Also nochmal schnell los, Mama und die fünfmonatige Kleine hielten die Stellung, während die Dreijährige und ich losdüsten. Im Supermakt nichts los, perfekt, doch dann der Schreianfall vor dem Quengelregal: „Iiiich wiiiiilll daaaas aaaber!“ Ich: „Och nö, du hattest vor einer halben Stunde gerade eine Handvoll Gummibärchen und gleich gibt’s Essen.“ Aber das Geschrei war da, die auf dem Boden strampelnde Tochter, die mitleidigen Blicke der Anwesenden. Der Klassiker!

Weiter ging’s mit morgendlichen Kämpfen, wie Toastbrote geschnitten werden und welche Klamotten für den Kindergarten zur Auswahl kommen dürfen. Meine Frau hatte es da morgens besser: Kurz nach 7 Uhr drückte sie den Kindern einen Kuss auf die Stirn und hauchte ihnen ein „Ich hab dich lieb“ hin, fuhr ins Büro – und ich hatte den Kleister bzw. die Wutwichte am Bein. Dafür kam ich später abends nach Hause und blieb vom Badetheater verschont.

Auf dem Weg zur starken Persönlichkeit

Ich hatte von Anfang an den Eindruck, hier geht’s um die Behauptung einer zu erlangenden Selbstständigkeit. Positionen kann man halten oder aufgeben, je nachdem, ob wichtig oder nicht. Inhaltlich nicht Relevantes aufzugeben („Du kannst die Sonnenmütze auch einstecken, musst du jetzt nicht aufziehen“) zog andere Diskussionen nach sich: „Sandalen sind heute richtig schlecht; es regnet und ist kalt!“ Die Konsequenz? Geschreie, Geheule, Tritte, Beschimpfungen – das ganze große Drama des kleinen Menschen. „Du hast mich gar nicht lieb, warum bist du so gemein zu mir?“ waren noch die Nettigkeiten unter den Beschimpfungen.

Nun ja, ein gewisser Grad an Sturheit ist mir auch zu eigen. Der Kindergarten ist keine hundert Meter von unserem Haus entfernt, weshalb ich mitunter mit einem halbfertigen heulenden Kind unter dem Arm den Laden enterte. Die anderen Kinder schauten mitfühlend oder interessiert zu, während die Wut meines Wutwichtes langsam verrauchte ob des Szenenwechsels. Ich setzte die Erzieher*innen kurz in Kenntnis, welche Lappalie den Eklat ausgelöst hatte, drückte mein Kind und zog von dannen, um gerade noch den Bus zur Arbeit zu erreichen. Meistens traf ich noch andere Mütter am Eingang: „Alles klar bei dir? Meine*r hat uns gestern einen schweren Morgen bereitet!“ Ergo: passiert allen, immer wieder, jahrelang.

Woher kommt’s? Mit drei bis fünf Jahren erleben Kinder sich selbst als autonome Persönlichkeiten und möchten ihre Ansichten durchsetzen – ohne dies argumentativ begründen zu können. Vernunftaspekte finden keine Berücksichtigung. Diese fließen erst ab sechs oder sieben Jahren mit ein. Ab dann verschwinden auch die Anfälle. So weit, so gut – wir alle wollen selbstständige und starke Persönlichkeiten in unseren Kindern fördern.

Durchhalten und verhandeln

Was tun? Gar nichts … beziehungsweise: wenig. Wutwichte an der Kasse muss man sich ausstrampeln lassen. Mitunter findet sich ein älterer Papa, der einem ermutigend zuruft: „Halten Sie durch, das geht vorüber!“ Grabenkämpfe um Kleiderfragen versuchen wir durch die vorabendliche Auswahl zu minimieren und – soweit es geht – ist die getroffene Auswahl auch verbindlich. Wenn’s geht, geht’s, und wenn nicht, dann eben nicht. Das heißt?

Das heißt: Spielraum lassen und verhandeln – und Alternativen ins Spiel bringen. Zieht euch warm an, liebe Eltern: Fünfjährige sind knallharte Verhandler*innen! Alternativen können so aussehen: „OK, die rote Jacke, die du gestern so geliebt hast, magst du nicht mehr. Nimm die blaue – Zähne müssen aber trotzdem geputzt werden, ich helfe dir gleich!“ Es ist ein unrühmliches Rumdealen, aber genau das ist das Gebot der Stunde. Und: siegen lassen. Blaue gegen rote Jacke – egal, Hauptsache, Zähneputzen wird umgesetzt.

Zeitpuffer einbauen

Aus meiner Sicht ist es auch wichtig, immer nochmal zwanzig Minuten Zeitpuffer einzubauen – wenn man das leisten kann. Mitunter klären sich die Dinge von selbst … und eine Viertelstunde später sieht die Welt vielleicht ganz anders aus. In nicht ganz so wichtigen Punkten nachgeben, aber Relevantes durchsetzen. Wutwichte sind vor sich selbst zu schützen; die Gefahr, sich im Anfall den Kopf an der Heizung aufzuschlagen oder ohne zu schauen auf die Straße zu rennen, ist hoch.

Szenenwechsel nutzen

Sehr erschöpft war ich nach diesen morgendlichen Gruseltheatervorstellungen. Ich saß im Bus, schlug die Zeitung auf und war glücklich, dass mir dort nur Lappalien wie die Weltfinanzkrise entgegenschlugen. Auf der Arbeit angekommen, rief ich stets im Kindergarten an, ob alles okay sei – da hörte ich mein Kind schon wieder im Hintergrund jubeln. Auch Szenenwechsel können also helfen: andere Bezugspersonen und befreundete Kinder sind immer auch Treibfedern, um der Wutfalle zu entwischen.

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